Jeder genießt anders
„Genießen ist für mich, wenn ich auf meiner Couch mit meiner Tasse Kaffee sitze und gar nichts mache.“ „Ernsthaft? Das wäre mir viel zu langweilig! Ich genieße es, wenn ich Adrenalin spüre. Ich halte es nicht lange aus auf der Couch.“ „Ich schaue lieber, was der Tag so mit sich bringt und versuche viele Gelegenheiten zum Genießen zu nutzen.“ „Ja, Essen zum Beispiel! Es gibt keinen höheren Genuss als außergewöhnlich gutes Essen!“
Der Austausch von vier Genießern und wir merken schnell, wie unterschiedlich Genussmomente aussehen können. Was charakterisiert die Genießer-Typen? Was ist wichtiger, die Eigenschaft (z.B. der Geschmack des Essens) oder das Verhalten beim Genießen? Und wie kann ich Genießen lernen?
Inhaltsverzeichnis
Die vier Genießer-Typen
Worauf kommt es an: die Eigenschaft oder das Verhalten?
Die Genuss-Schule: Genießen lernen und trainieren
Genuss ist nicht andauernd aber wiederholbar
Die vier Genießer-Typen
Genießen ist etwas sehr Individuelles. Dennoch konnten in der Studie mittels Clusteranalyse vier Gruppen von Genießern charakterisiert werden. Ruhe oder Bewegung? Zuhause oder außerhalb der vier Wände? Geplant oder ergibt er sich von selbst? Hat Genuss eher mit dem Körper oder mit dem Geist zu tun? Gesundes oder Ungesundes? Alltägliches oder Besonderes? Teures oder ist es unabhängig vom Geld?
36% der Befragten gehören dieser Gruppe an. Sie charakterisiert eine Bescheidenheit beim Genießen. Das Nichtstun nach dem Arbeitstag ist schon an sich eine Belohnung und Anlass zum Genießen. Dafür ist wenig Aufwand erforderlich. So hat der Couchgenießer Freude an den kleinen Dingen im Leben. Sein Vorteil ist, dass er oft unspektakuläre Momente genießt und es deswegen oft im Alltag etwas Gutes für die Seele entdeckt. Das kann neben der Ruhe und der Entspannung auf der Couch auch ein Spaziergang in der Natur sein oder ein Fernsehabend. Er ist dabei nicht auf die Gesellschaft anderer angewiesen. Genießen geht auch allein.
Etwas mehr als ein Viertel der Deutschen (27%) stehen absolut hinter der Aussage: „Genuss geht durch den Magen“. Besondere und ungewöhnliche Speisen und Getränke werden zelebriert, größtenteils auswärts des Alltags und der eigenen vier Wände. Das Arbeitsumfeld im Alltag wird als angenehmer Ort gestaltet. Beim Genießen wägt der Geschmacksgenießer nicht lange die Folgen seines Handelns ab. Es geht um das sich verwöhnen im Hier und Jetzt. Genuss bedeutet zumeist Konsum. Man gönnt sich ja sonst nichts.
17% der Befragten genießen nicht im Alltag und nicht Zuhause. Das ist zu gewöhnlich. Sie brauchen das Besondere, den Kick und eine hohe Intensität. Die Extreme finden sie in Sport oder Events. Ihre Genussmomente planen sie. In der Vorfreude werden auch Kleinigkeiten wie Ordnung schaffen in der Vorbereitung ein Genuss. Ihr Arbeitsumfeld ist strukturiert und ihre Arbeitsgeräte sind qualitativ hochwertig.
Genießen plant der Alltagsgenießer (17%) wenig. Er schaut, was der Tag mit sich bringt. Das können viele Dinge sein, wie die Pausen oder die Ruhe am Bügelbrett. Ihre Aufmerksamkeit liegt auf einer schönen Gestaltung des Arbeitsortes: Musik, Blumen und Bilder ermöglichen genussvolles Arbeiten. Weniger die Tasse Kaffee oder kleine Snacks. Alltagsgenießer gestalten ihre Zeit gerne in Gesellschaft. Ebenfalls anders als der Couchgenießer ist Nichtstun weniger ein Genuss. Sie strengen sich gelegentlich für das Genusserlebnis an – geistig und körperlich. Ihre bescheidene Genussart beschert dem Alltagsgenießer viele schöne Erlebnisse.
Wie bei allen Clustern gibt es natürlich Mischtypen. Es nicht festzustellen, welcher Typ am meisten genießt oder ob eine Mischung von allem am besten ist. Woran sollte der empfundene Genuss gemessen werden? Hauptsache ist, dass alle genießen. Für die Hälfte der Befragten ist der wichtigste Genuss-Faktor die Zeit und die Ruhe. Zeit ist der limitierende Faktor beim Genießen und nicht das Geld.
Worauf kommt es an: die Eigenschaft oder das Verhalten?
Das Genussempfinden hat zwei Einflussfaktoren: Die Eigenschaft des Objektes und das Verhalten des Genießers.
Der Effekt eines Produkts hat eine Wirkung, unabhängig davon wie es aufgenommen wird: ein Energy Drink aktiviert und Alkohol enthemmt. Diese Wirkungen werden in der Werbung stark hervorgehoben: das Brummen des Motors eines neuen Autos oder der Duft des neuen Waschmittels. Die Werbung stellt diesen Genussmoment in Aussicht.
Die Wirkung durch die Eigenschaft eines Produktes ist zwar vorhanden, wird aber meistens den Erwartungen als Genussquelle nicht gerecht. Sie sind notwendig, denn wenn ein Snack nicht schmeckt oder ein Waschmittel nicht gut riecht, dann wird sich kein Genussempfinden einstellen. Voraussetzung zum Genießen ist aber auch das Genussverhalten, in der Fachsprache „euthyme Orientierungsreaktion“ genannt.
„Wendet sich eine Person einem Objekt oder Vorgang zu, tritt eine euthyme Orientierungsreaktion (EOR) auf, die den Genuss einleitet.“, erklärt Dr. Rainer Lutz, klinischer Psychologe und fährt fort: „Der Prozess des Genießens kommt in Gang: Die Konzentration und sinnliche Wahrnehmung wird auf das Genussobjekt gerichtet, sodass eine „euthyme Versenkung“ eintritt. In diesem Moment scheint die Zeit still zu stehen, positive Bilder oder Erinnerungen tauchen auf; es tritt Entspannung ein.“ Erst mit Wahrnehmung und „Versenkung“ der Objekteigenschaft wird das Genusserlebnis komplett.
Die Genuss-Schule: Genießen lernen und trainieren
Anstatt sich Dinge zu verbieten, sollte zunächst der Versuch gestartet werden, dasselbe zu tun aber mit Genuss. Im Hinterkopf haben wir bereits die 7 Grundregeln dafür abgespeichert. Das Vorhaben „Heute esse ich keine Schokolade!“ wird ersetzt durch „Heute genieße ich Schokolade!“ Kein Verschlingen in kurzer Zeit, sondern ein bewusstes Wahrnehmen durch die Sinne.
Wie das funktioniert? Durch geschärfte und geschulte Sinne. Damit nehmen wir Genuss-Gelegenheiten genauer wahr und die stecken auch in zuerst scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten.
Die Genuss-Schule beginnt mit dem Einsatz der einzelnen Sinne – riechen, schmecken, hören, sehen, tasten.
Riechen
Bei der Übung zum Riechen wird am besten ein natürlicher Geruch gewählt. Um den Duft bewusst wahrzunehmen, können Fragen beantwortet werden: Wonach riecht es? Aromatisch, fruchtig, erdig, blumig? (Es ist nicht schlimm, wenn dir die beschreibenden Worte nicht einfallen, denn viele scheitern daran.) Wo und wie bist du auf den Geruch aufmerksam geworden? Woran erinnert dich der Geruch? Die zurückliegenden Erlebnisse werden neu erlebt.
Sehen
Farben und Formen können ebenfalls Gefühle hervorrufen. Um das Sehen zu schulen, kannst du ein Bild anschauen und es dir einprägen. Was ist auf dem Bild? Welche Farben dominieren? Was gefällt dir an dem Bild? Dann schließe die Augen und versuche das Bild zu rekonstruieren. Erinnerst du dich an alles?
Schmecken
Riechen und schmecken bilden ein Zusammenspiel. Auf der Zunge sind fünf Geschmacksrichtungen wahrnehmbar: süß, sauer, salzig, bitter und umami. Nimm dir ein Stück Obst, ein Keks oder irgendein anderes Lebensmittel. Esse langsam und schließe die Augen dabei. Was schmeckst du? Wie ist die Konsistenz und wie verändert sie sich? Verändert sich auch der Geschmack?
Hören
Wie klingt die Stimme deines Lieblings-Sängers? Welche Geschichten und Bilder entstehen vor deinem inneren Auge, wenn du einem Instrumental-Stück lauscht? Wie hört sich das Meer an? Bei welchen Geräuschen fühlst du dich wohl und warum? Ist es das Knacken von Holz im Kamin oder das Mahlen der Kaffeemaschine? Wenn wir konzentriert hinhören, sprechen wir auch von „lauschen“, also „mit gespannter Aufmerksamkeit zuhören, sodass einem kein Wort, kein Ton entgehen kann“. Das ist Training für die Ohren.
Tasten
Vor allem mit den Füßen und Fingerspitzen nehmen wir gut unterschiedliche Materialien wahr. Weit verbreitet sind Barfußpfade, bei denen nacheinander Stein, Kies, Holz, Rindenmulch, Sand und Gras durchschritten werden. Die kleinen Nervenendungen in den Fußsohlen signalisieren, worüber wir laufen, ohne dass wir hinschauen müssen. Sind die Füße nicht durch Schuhe geschützt, gehen wir vorsichtig und konzentriert. Mit dem Tastsinn nehmen wir auch Temperaturen wahr. Wie fühlen sich die unterschiedlichen Materialien an? Sind die einen kälter und die anderen wärmer? Woran erinnern sie dich? Wo bist du das letzte Mal barfuß durch Sand gegangen?
Genuss ist nicht andauernd aber wiederholbar
Ein Genuss bleibt kein Genuss, wenn er kein Ende findet. Er kann nicht ewig verlängert werden, aber er kann wiederholt werden. In der fünften Genussregel heißt es „Weniger ist mehr“. Dr. Rainer Lutz erklärt: „Genießen können erfordert, zeitweise nicht zu genießen […]. Kein Mensch kann ununterbrochen genießen. Das menschliche Nervensystem und die Sinnesrezeptoren benötigen Regenerierungsphasen. Werden sie weiter beansprucht, habituieren sie.“ Damit es also nicht zur Gewohnheit und damit gewöhnlich wird, müssen wir Pausen von den Pausen einlegen.
Viele haben den Wunsch nach mehr Genuss im Leben. Indem die Sinne geschärft werden, kann man sich diesen Wunsch selbst erfüllen. Denn Genuss ist untrennbar mit ihnen verbunden. Ob man sich eher dem Couchgenießer oder dem Erlebnisgenießer zuzählt, für jeden gilt: Genuss muss bewusst wahrgenommen werden. Um das zu trainieren, können Fragen beantwortet werden und dadurch Wörter für Genussmomente gefunden und gesammelt werden. Wenn du das nächste Mal einen guten Duft wahrnimmst, schließe kurz die Augen, atme ein, versinke kurz darin und schnapp dir den Genussmoment mitten im Alltag.
Quellen:
Genussbarometer Deutschland: wie wir zu leben verstehen. Hrsg. Thomas Platt. Christoph Links Verlag. 1. Auflage 2004
Genussfähigkeit- Die kleine Schule des Genießens: https://www.bdsi.de/fileadmin/redaktion/Nachrichten_aus_der_Wissenschaft/WDP_01_2017.pdf
https://www.food-monitor.de/2017/04/genussfaehigkeit-die-kleine-schule-des-geniessens/
https://www.genuss-tut-gut.de/blog/sinneswahrnehmung-sinnesschulung/?hilite=%27euthym%27
https://www.duden.de/rechtschreibung/lauschen
https://www.urlaubsguru.de/lexikon/barfusspfad/
Genuss zwischen Mode und Tradition – Christoph Wagner: http://speising.net/upload/Genuss.pdf#search=%22genuss%20begriff%22
Genussfähigkeit, Maßnahmen zur Förderung der Genussfähigkeit und Genusstherapie. Rainer Lutz – aus Salutotherapie in Prävention und Rehabilitation. Hrsg. M. Linden/ W. Weig. Deutscher Ärtze-Verlag, 2009
Psychologie des Essens: eine Genussstudie: https://www.veoe.org/assets/PublicPDF/EB_3_2018_psychologie_des_essens_eine_genussstudie.pdf