Warum wir mögen, was gut schmeckt
Zahnstocher sind sehr praktische Alltagshelfer mit sehr langer Tradition. „Der Zahnstocher ist eine der ältesten Erfindungen des Menschen“, sagt Henry Petroski von der Duke Universität in North Carolina. Das Holz-Stäbchen mit spitz zulaufenden Enden wurde jahrhundertelang als kleines Werkzeug genutzt, um Essensreste aus den Zahnzwischenräumen zu holen. Mit der Zeit wurden viele weitere Funktionen entdeckt: Zahnstocher werden genutzt für Kindergeburtstagsspiele, als Bastelmaterial, beim Herauslösen von Kalk aus der Duschbrause und bei der Zubereitung von Käse-Weintrauben-Spießen.
Es gibt aber auch eine weitere Entwicklung: Zahnstocher mit Geschmack. Bei der Herstellung werden die Zahnstocher beispielsweise mit Pfefferminz-, Zitronen-, Erdbeer-, Kaffee- oder Vanillegeschmack versetzt. Im Patent heißt es: „Hierdurch wird neben dem Reinigungseffekt, der durch die Funktion des Zahnstochers, nämlich in den Zahnzwischenräumen Lebensmittelreste zu entfernen, vorgegeben ist, eine zusätzliche Frische des Mundraums erlangt, die bei moderner Mundhygiene ein wichtiger Bestandteil ist. Der hierdurch zur Verfügung gestellte Mehrwert für den Benutzer schlägt sich direkt in erhöhtem Wohlbefinden und sicherem Auftreten im Umgang mit anderen Menschen nieder.“ Ein Anbieter erwähnt, dass sie auch beim Rauchstopp unterstützen können. Anstatt zu einer Zigarette zu greifen, kann ein Zahnstocher mit Geschmack gewählt werden. 80 Stück kosten etwa sechs bis acht Euro. Zum Vergleich: 450 Zahnstocher ohne Geschmack kosten 1,80 Euro. Die Rezensionen sind positiv - einfach weil’s schmeckt.
Guter Geschmack ist für die Deutschen das wichtigste Auswahlkriterium beim Kauf von Nahrungsmitteln. Aber wie funktioniert das eigentlich mit dem Schmecken? Wie nehmen wir Geschmack wahr? Welche Geschmacksrichtungen gibt es? Und inwiefern sind Geschmacksvorlieben oder -abneigungen angeboren?
Inhaltsverzeichnis
Geschmack ist die Summe vieler Sinneseindrücke
Wie wir Geschmack wahrnehmen
Die fünf Geschmacksrichtungen
Was wird als erstes zum sechsten Geschmackssinn?
Scharf ist Schmerz
Geschmacksschwelle
Angeborene und erlernte Geschmacksvorlieben und -abneigungen
Den unverfälschten Geschmack schätzen lernen
Einfach weil’s schmeckt
Geschmack ist die Summe vieler Sinneseindrücke
Wenn wir uns zufrieden über ein gutes Essen äußern mit „Das war richtig lecker!“, dann sind verschiedene Sinne an diesem Fazit beteiligt gewesen. Der eigentliche Geschmackssinn (gustatorischer Sinn), der die verschiedenen Geschmacksrichtungen wahrnimmt, steuert nur einen Teil zum Gesamteindruck bei. Für den Geschmack ebenfalls entscheidend ist Konsistenz, Temperatur und Geruch. Der Geruchssinn nimmt den Duft des Essens auf, der Tastsinn analysiert Temperatur und Konsistenz und nimmt scharfe, prickelnde oder beißende Eindrücke wahr. Das Gehirn fasst alles zusammen zum vollen „Geschmack“ (engl. flavor).
Zum Überleben ist das Wahrnehmen von Geschmackseindrücken absolut notwendig, damit zwischen potenziell nahrhafter und schädlicher Nahrung unterschieden werden kann. Wird beim Schmecken das Lebensmittel als „potenziell schädlich oder verdorben“ eingestuft, kommt es zu einer sofortigen Reaktion: Das Essen wird ausgespuckt.
Wie Augenfarbe und Blutgruppe ist die Fähigkeit zu schmecken etwas Angeborenes. Unterschiedliche Geschmacksempfindlichkeit, Grundlagen für Vorlieben und Abneigungen werden schon vor der Geburt geprägt. Nach der Geburt können Umwelteinflüsse, Erfahrungen und Bewertungen den Geschmackssinn weiter beeinflussen.
Wie wir Geschmack wahrnehmen
Für den individuellen Geschmack eines Lebensmittels sind verschiedene Geschmacksstoffe zuständig. In Parmesan wurden beispielsweise 31 verschiedene Aromastoffe identifiziert, zu denen Mineralien, Fettsäuren, organische Säuren und Aminosäuren gehören. Diese Stoffe werden von Rezeptoren wahrgenommen, die sich in den Geschmacksknospen auf der Zunge befinden. Mittlerweile wurden Geschmacksrezeptoren auch in anderen Organen entdeckt, deren Aufgaben bisher noch unverstanden sind und weiter erforscht werden (müssen).
Geschmacksknospen
Die Geschmacksknospen sind zwiebelförmige Zusammenlagerungen von 50–150 lang gestreckten Zellen. Die Spitzen der Einstülpungen, die etwas herausragen sind die sogenannten Geschmacksporen. Sie kommen direkt in Kontakt mit dem Speichel und damit mit den Geschmacksstoffen. Auch in der Schleimhaut des Gaumens, Kehldeckels, Rachens und Schlundes gibt es Geschmacksknospen.
Ein Jugendlicher hat etwa 9.000 Geschmacksknospen, ältere Menschen etwa nur noch die Hälfte. Bei ihnen ist vor allem die Geschmackswahrnehmung „süß“ vermindert.
Geschmackspapillen
Die meisten Geschmacksknospen befinden sich in den Geschmackspapillen der Zunge. Es sind Auffaltungen der Schleimhaut. Die Papillen unterteilen sich in Pilz-, Blätter, Wall- und Fadenpapillen und bergen sehr unterschiedliche Geschmacksknospen, was Form, Lage und Anzahl betrifft.
Die Fadenpapillen haben eine tastende Funktion und dienen dem Festhalten der Nahrung. Den Geschmack nehmen wir mit den anderen Papillen-Arten wahr. Die etwa 300 Pilzpapillen sind überwiegend im vorderen Teil der Zunge und weisen zwischen drei bis fünf Geschmacksknospen auf. An den hinteren Seiten der Zunge finden sich die Blätterpapillen, die bis zu fünf Auffaltungen der Schleimhaut und darin mehrere hundert Geschmacksknospen aufweisen. Die meisten Knospen stecken aber in den Wallpapillen. Sie sind im hinteren Teil der Zunge. Etwa neun von ihnen hat jeder Mensch und darin enthalten sind mehrere hundert Geschmacksknospen.
Geschmackszellen
In den Geschmacksknospen befinden sich Geschmackszellen, die als Gruppen von etwa 100 Zellen vorkommen. Sie gehören zu den sekundären Sinneszellen, also Schleimhautzellen, die beim Schmecken chemische Reize erkennen und sie an Nervenzellen weitergeben. Diese geben dann die Informationen ans Gehirn weiter.
Die Verteilung von Sinneszellen für jede Grundgeschmacksart ist genetisch festgelegt und entscheidet über die Empfindlichkeit der Geschmackswahrnehmung. Die Sinneszellen haben klare Erkennungsprofile mit speziellen Rezeptoren, die wie zugeschnittene Andockstationen für die einzelnen Geschmacksstoffe funktionieren. Die Zellen reagieren zwar auch auf alle anderen Geschmacksrichtungen, die Reaktion auf die spezifische Geschmacksqualität ist aber am stärksten.
Die Lebensdauer einer Geschmackssinneszellen beträgt ca. zehn Tage. Danach wird sie von einer in den Geschmacksknospen bereits vorhandenen Basalzelle ersetzt.
Reizaufnahme und -weiterleitung ins Gehirn
Die Sinneszellen setzen beim Schmecken von Aroma- und Geschmacksstoffen den Neurotransmitter Adenosintriphosphat (ATP) frei. Die Nervenfaser nehmen die Informationen auf und leiten es an das Gehirn weiter. Einige Fragen zu dieser Informationsweitergabe sind noch offen, zum Beispiel, wie genau das Gehirn aus dem ATP die eine Geschmacksrichtung erkennt, was die anderen Botenstoffe und ihre Rezeptoren in den Geschmacksknospen für eine Rolle haben und wie das Zusammenspiel mit den Hunger- und Sättigungshormonen ist. Belegt ist, dass es einen Zusammenhang zwischen Geschmacksempfindlichkeit und Stoffwechsel gibt. Behrens et al. erläutert: „Bspw. wirken die gegensätzlich wirkenden Hunger- und Sättigungshormone Leptin und Endocannabinoid auch gegensätzlich auf die „süß-Sinneszellen“, um die Empfindlichkeit für Süßes herab- bzw. heraufzusetzen und damit Einfluss auf die Nahrungsmenge zu nehmen.“
Drei Hirnnerven sind für den Informationsfluss von Nervenzellen bis Stammhirn zuständig. Sie stehen im Kontakt mit den Nerven, die für Speichelfluss sowie Kau- und Schluckmuskulatur zuständig sind, sodass die nächste Reaktion - Schlucken oder Ausspucken – ausgelöst werden kann. Außerdem wird der Verdauungstrakt über die anstehende Nahrung informiert.
Das Geschmacksareal befindet sich in einem speziellen Bereich der Großhirnrinde. Hier werden die Sinneseindrücke von den Geschmackszellen und dem Geruchs- und Tastsinn zusammengefasst.
Die fünf Geschmacksrichtungen
Auch wenn es viele verschiedene Aroma- und Geschmacksstoffe gibt, so reichen uns fünf Grundgeschmacksarten, um diese Komplexität zu meistern: süß, sauer, salzig, bitter und umami (fleischig).
Weit verbreitet ist die Annahme, dass es für jede Geschmacksrichtung bestimmte Zungenbereiche gibt. Dem ist aber nicht so, die fünf Geschmäcker können auf der gesamten Zungenoberfläche wahrgenommen werden, wobei empfindlicher an den Seiten als in der Mitte geschmeckt wird. Im hinteren Bereich wird vor allem „bitter“ stärker wahrgenommen.
Süß
Durch die genetische Prägung und das erste Schmecken von Fruchtwasser und Muttermilch, gibt es eine Vorliebe für den süßen Geschmack. Wir erkennen Zucker(arten) als schnell verfügbare, sichere Energiequelle, die das Überleben sichern. Auch andere Stoffe können die Sinneszellen für süß anregen, wie etwa Süßstoffe, einige Proteinbausteine und Alkohole.
Sauer
Säure ist Auslöser für das Geschmacksempfinden von „sauer“. Es ist ein Zeichen von unreifen Früchten und ätzenden Lebensmitteln. Für die Sauer-Intensität ist nicht der pH-Wert das Entscheidende. Essigsäure schmeckt saurer im Vergleich zu Salzsäure trotz selben pH-Wert.
Bitter
Von Geburt an haben wir eine Abneigung gegen den bitteren Geschmack. Er ist ein Warnsignal, denn Giftstoffe schmecken oft bitter. Auf der Zunge, im Bereich des Gaumens, des Rachens und des Kehlkopfs befinden sich die Bitter-Rezeptoren. Überall gut verteilt und bereit, die kleinste Menge an Bitterstoffen zu registrieren. Denn Bitter-Rezeptoren sind 10.000-mal empfindlicher als die Rezeptoren für „süß“. Bereits 0,005g Chininsulfat (bekannt aus Bitterlemon) in einem Liter Wasser reichen für die Geschmackswahrnehmung aus. 25 verschiedene Geschmacksrezeptoren genügen für das Erkennen von Zehntausenden von Bitterstoffen. Sie kommen natürlicherweise in Pflanzen vor, zum Beispiel Koffein in Kaffee oder Limonin in Zitrusfrüchten. Sie können aber auch bei der Verarbeitung von Lebensmitteln entstehen oder durch Alterung bei gelagerten Lebensmitten.
Salzig
In den ersten vier Lebensmonaten eines Säuglings wird eine Vorliebe für „salzig“ entwickelt. Ein Baby, das ausschließlich mit der Muttermilch ernährt wird, hat mit sechs Monaten eine klare Salzpräferenz. Dabei ist der Salzgehalt in der Muttermilch klein.
Diese angeborene Neigung für Salziges kann mit dem fein abgestimmten Elektrolyt- und Wasserhaushalt erklärt werden. Möglicherweise macht der Körper damit auf Mineralien aufmerksam, die nach Ausscheidungen von Elektrolyten, zum Beispiel über Schweiß, wieder aufgenommen werden müssen.
Der salzige Geschmack wird meistens von Kochsalz, also dem Mineral Natriumchlorid, ausgelöst. Der Geschmack von anderen Mineralsalzen kann deutlich von Kochsalz abweichen.
Umami
Umami ist die jüngste Geschmacksart-Entdeckung. 1908 entdeckte der Japaner Kikunae Ikeda diese Richtung und benannte es nach dem japanischen Wort „umai“, was übersetzt lecker, fleischig bedeutet. Damit verbunden sind auch die Ausdrücke herzhaft, schmackhaft, köstlich und Glutamat-Geschmack. Letzteres liegt daran, dass der Umami-Rezeptor sehr spezifisch auf L-Glutaminsäure ausgelegt ist. Die Aminosäure Glutamat dient demnach als Geschmacksträger für umami.
Natürlicherweise kommt Glutamat in eiweißhaltigen tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln vor, insbesondere in Algen, Hefeextrakt, Tomaten, Käse und Pilzen.
Was wird als erstes zum sechsten Geschmackssinn?
Diskutiert wird, ob „fettig“ eine sechste Geschmacksrichtung sein könnte. Bisher wird Fett als Geschmacksträger verstanden, nicht als eigenständiger Geschmack. Manche Studien liefern Hinweise auf die Möglichkeit, dass reines Fett nicht geschmacklos ist. Entdeckt wurden beispielsweise Rezeptoren im Mund, die auf langkettige Fettsäuren reagieren. Und auch die Frage nach der Spaltung der Fette in Fettsäuren im Mund konnte geklärt werden. „Die Lipasen sind im Gesamtspeichel nicht nachweisbar, sondern werden offensichtlich lokal in der Nähe der Geschmacksknospen ausgeschüttet“, erläutert Thomas Hofmann von der Technischen Universität München.
Damit „fettig“ aber tatsächlich allgemein als sechste Geschmacksart klassifiziert werden kann, „müssten erst bestimmte Vorgänge an den Rezeptoren der Geschmackszellen im Mund erwiesen sein.“, so Prof. Russell Keast von der Deakin Universität, dessen Forschungsschwerpunkt auf dem Geschmackssinn liegt.
Neben „fettig“ gibt es aber weitere Anwärter, die für eine sechste Geschmacksart in Frage kommen könnten. Dazu gehören Stärke, Calcium, alkalisch, wasserartig und blutig/metallisch.
Kokumi war ebenfalls ein Kandidat. Es kommt wie umami aus dem Japanischen und steht für einen ausgewogenen, harmonischen, vollmundigen Geschmack. Beispielsweise bei Eintöpfen wie Chili con Carne liegt dieser Effekt vor oder auch Gerichte mit Wildpilzen, die den Geschmack und das Mundgefühl beeinflussen. Das Bundeszentrum für Ernährung weist auf die Ergebnisse einer Untersuchung von Wissenschaftlern der Technischen Universität München (TUM) und des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie hin und erklärt: „Dabei handelt es sich nicht um eine eigene Geschmacksrichtung wie süß, salzig oder umami. Stattdessen beschreibt Kokumi das Phänomen, dass bestimmte Substanzen zwar nicht selbst schmecken, aber Speisen sensorisch verändern. Das führt zu einem vollmundigen und vielschichtigen Geschmackserlebnis. Der Kokumi-Effekt bei Pfifferlingen ist auf Inhaltsstoffe zurückzuführen, die von Fettsäuren abgeleitet sind. Konzentration und Zusammensetzung werden durch Zubereitung und Lagerung dynamisch verändert –enzymatisch oder infolge von Oxidation.“
Es wird sich zeigen, welche Kandidaten sich durchsetzen oder doch wieder von der Liste gestrichen werden. Jedenfalls ist die Forschung in der Geschmackswelt noch lange nicht abgeschlossen.
Scharf ist Schmerz
Außer Vögel, die keine Rezeptoren für Scharfstoffe haben, sind Menschen die einzigen Lebewesen, die freiwillig scharfe Nahrungsmittel aufnehmen. Scharf gehört nicht zu den Geschmacksrichtungen, denn bei scharfem Essen werden nicht Sinneszellen, sondern Schmerzrezeptoren angeregt, die Tast- und Temperaturwahrnehmung weiterleiten. Diese Heiß-Empfindung bei Scharfstoffen spiegelt auch das englische Wort „hot“ wider. Der Rezeptor, der für Capsaicin zuständig ist, reagiert auch auf Hitze (ab 42°C) und andere Substanzen. Capsaicin ist eine der bekanntesten Scharfstoffe und kommt in Paprika und Chilischoten vor. Neben dem scharfen Geschmack wird Capsaicin auch im medizinischen Bereich mit schmerzstillender Wirkung eingesetzt.
Geschmacksschwelle
Wann ein Geschmack erkannt wird, ist individuell sehr unterschiedlich. Die Schwelle, ab der Salz erkannt wird, liegt im Allgemeinen ab 1g/l Wasser. Bitterstoffe werden schon ab ca. 4mg/l wahrgenommen. Die persönliche Geschmacksschwelle kann mit einem kleinen Test herausgefunden werden.
Angeborene und erlernte Geschmacksvorlieben und -abneigungen
Was wir mögen und wie wir uns als Erwachsene ernähren ist von vielen Faktoren abhängig. Es beginnt bereits vor der Geburt, wie die Mutter sich in der Schwangerschaft ernährt, später in der Stillzeit, ab wann und mit welcher Beikost gefüttert wird und wie die Ernährungsgewohnheiten der Familie sind.
Geschmacksvorlieben zeigen sich schon bei Säuglingen. Durch das Fruchtwasser entwickelt der Fetus eine Vorliebe für süß und salzig, die bis ins erste Lebensjahr besteht. Gleichzeitig liegt eine Aversion gegen bitter und sauer vor. Vermutlich gehen Aromastoffe von der Nahrung der Mutter ins Fruchtwasser über, was kulturelle Vorlieben bei Säuglingen erklären würde. Wenn Mütter in der Schwangerschaft oft an Übelkeit und Erbrechen litten, so eine Untersuchung von Crystal und Bernstein, war die Salzpräferenz und später der Salzkonsum von Säuglingen und Kleinkindern stärker.
Prof. Dr. Angelika Ploeger von der Universität Kassel erklärt die Geschmacksprägung in den ersten Lebensjahren: „In der frühen Kindheit, d.h. in der Altersstufe 1-4 Jahre, prägen sich – umweltabhängig – durch Beobachtungslernen Präferenzen aus, etwa im Elternhaus, später auch in Kindertagesstätten und Kindergärten. Hierbei spielt das Thema Vertrautheit von Lebensmitteln und deren sensorischer Ausprägung wie Geschmack, Geruch und Textur eine sehr wichtige Rolle. Ein Essenszwang generell oder für bestimmte Lebensmittel führt eher zur Ablehnung (Neophobie).“
In der Grundschulzeit nimmt der Einfluss von Gleichaltrigen zu. Die Pausenverpflegung wird verglichen, geteilt, getauscht und es wird gegessen, was angesagt ist. Auch Medien und Werbung beeinflussen zunehmend die Lebensmittelpräferenzen.
Gleichzeitig ist der Umgang mit Lebensmitteln im Elternhaus nicht zu unterschätzen: „Wenn Eltern mit ihren Kindern zusammen Mahlzeiten einnehmen und über das Gericht bzw. die hierfür verarbeiteten Lebensmittel sprechen sowie offen sind, Neues auszuprobieren, so prägt das auch die Einstellung von Kindern zu Lebensmitteln – generell, besonders aber für neue Lebensmittel!“, so Prof. Dr. Ploeger.
Erfahrungen sind ebenfalls prägend für spätere Lebensmittelaversionen. Wurde das erste Mal etwas bisher Unbekanntes gegessen und stellen sich danach Übelkeit und Verdauungsbeschwerden ein, entsteht eine „erlernte“ Abneigung. Dafür reicht ein einmaliges Ereignis. Allerdings kann dem durch bewusste mehrfache Wiederholung entgegengewirkt werden. Wird dieses mit Übelkeit assoziierte Lebensmittel noch einmal gegessen ohne spätere Beschwerden, nimmt die Ablehnung ab. In einem Experiment aßen die meisten Kinder, die zunächst Möhrenbrei präferierten und Spinatbrei ablehnten, nach dem zehnten Anbieten auch die Spinatvariante. Experten reden hier von „Präferenzlernen“. Daher sollte einem Kind eine Speise mehrfach in verschiedenen Kombinationen angeboten werden, auch wenn es zunächst verweigert wird. Durch Wiederholung gewöhnt es sich an die verschiedenen Geschmäcker, was eine breite Spannbreite an Lebensmitteln und damit eine abwechslungsreiche und vergleichsweise gesunde Ernährung ermöglicht.
Hübner et al. vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke weisen auf die Wichtigkeit dieser Eindrücke, die im Geschmackserkennungsgedächtnis gespeichert werden, auf die spätere Ernährungsweise hin: „Dem Geschmackssinn aber kommt eine überragende Bedeutung zu, da er das angeborene reflexartige Aufnahme- und Ablehnungsverhalten steuert. Aus den verschiedenen Sinneseindrücken konstruiert das Gehirn den Gesamtgeschmackseindruck einer Speise, der je nach den postprandialen Erfahrungen zu erlernten Vorlieben oder bedingten Abneigungen führt. Beides wird im impliziten Geschmackserkennungsgedächtnis abgelegt, wodurch ein schnelles und sicheres Wiedererkennen von Nahrung bei erneutem Kontakt gewährleistet wird. Wiederholter Verzehr verstärkt die Vorlieben oder Abneigungen und führt zur Ausbildung stabiler Ernährungsmuster, die es uns schwer machen, unsere Ernährungsweise zu verändern.“
Den unverfälschten Geschmack schätzen lernen
In den letzten Jahren haben verarbeitete Lebensmittel die Supermärkte und die Speisepläne erobert. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass der Geschmack von frischen Lebensmitteln vielen nicht mehr vertraut ist und eher abgelehnt wird. „Bei der Produktentwicklung von verarbeiteten Lebensmitteln werden Farb- und Aromastoffe eingesetzt, um den Verlust an Farbe und Aromen durch die Verarbeitung auszugleichen und das Lebensmittel sensorisch ansprechend zu gestalten. Da natürliche Aromen und färbende Substanzen häufig teuer sind, werden naturidentische oder künstliche Aroma- und Farbstoffe eingesetzt, die jedoch z.B. nicht die Komplexizität eines natürlichen Aromas besitzen. Oft wird auch grob überdosiert.“, informiert Prof. Dr. Ploeger. „Durch den hohen Grad an vorverarbeiteten Produkten ist der sinnliche Bezug zu Frischprodukten verloren gegangen und muss erst wiederentdeckt werden. Genuss braucht Zeit und Erfahrung.“ Wie die Kinder, die durch wiederholtes Anbieten eines Lebensmittels ihre Präferenzen änderten, kann auch der authentische Geschmack von frischen, unverarbeiteten Lebensmitteln neu entdeckt werden. Dieser liegt bei Obst und Gemüse vor allem dann vor, wenn die Sorte Saison hat und damit Reifegrad, Aussehen, Textur und Geschmack stimmen.
Durch die naturnähere Produktion ist der Bio-Begriff mit einem natürlichen Geschmack verbunden. Bei der ökologischen Landwirtschaft sind durch die EG-Öko-Verordnung erlaubte Zusatzstoffe (inklusive Aromastoffe) deutlich eingegrenzt. Ob Bio wirklich besser schmeckt, wird jeder aus persönlicher Erfahrung subjektiv beantworten. Eine objektive Antwort gibt es daher nur auf die Frage, ob Bio anders schmeckt. Diese Objektivität wird in der Sensorik-Forschung durch analytische und affektive Tests gewonnen. Durch Normen sind diese Sensorik-Prüfverfahren wissenschaftlich standardisiert und somit vergleichbar. Daneben gibt es noch beschreibende Verfahren, bei denen die Eigenschaften eines Lebensmittels genau in Farbe, Form, Geruch, Geschmack und Textur aufgezeichnet werden.
Aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit kann Prof. Dr. Ploeger die Frage nach dem anderen Bio-Geschmack mit einem klaren „ja“ beantworten. Durch die Eingrenzung der erlaubten Hilfsstoffe unterscheiden sich die Rezepturen von Bio-Produkten zu den konventionellen Lebensmitteln. Bei Obst und Gemüse bewirkt eine andere Sortenwahl beim Anbau und die Art der Düngung (zum Beispiel Kompostdüngung) geschmackliche Unterschiede. Der höhere Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen trägt ebenfalls zum Geschmack bei. Gut messbar ist außerdem das Zucker-Säure-Verhältnis, das bei Bio-Produkten häufig angenehmer beurteilt wird.
Einfach weil’s schmeckt
Nach wie vor ist der Geschmack von Lebensmitteln das wichtigste Entscheidungskriterium beim Einkauf. Dahinter liegen Frische, Qualität und Regionalität. Ein niedriger Preis ist erst auf dem siebten Platz. Das Wahrnehmen von Geschmackseindrücken ist lebensnotwendig, damit auf schädliche Nahrung sofort reagiert werden kann. Diese genetische Präferenz zeigt, warum Geschmack so einen großen Stellenwert hat.
Die angeborenen Geschmacksvorlieben werden ergänzt durch Erfahrungen, Emotionen, Gewohnheiten sowie soziale und kulturelle Prägung. Aber auch das Angebot beeinflusst das Ernährungsmuster. Der Markt mit (stark) verarbeiteten Lebensmitteln ist in den letzten Jahren zunehmend gewachsen. Die künstlichen Farb- und Aromastoffe, die diesen Lebensmitteln zugesetzt werden, prägen die Geschmacksvorlieben. Die Präsidentin der Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin Prof. Dr. oec. troph. Dr. med. Anja Bosy-Westphal zeigt auf: „Hochverarbeitete Lebensmittel fördern die Entwicklung von Mangelernährung und Adipositas und sollten daher nur in geringen Mengen verzehrt werden.“ Stattdessen sollten wieder viele unverarbeiteten, frischen Nahrungsmitteln auf den Teller kommen. Mit frischen und natürlichen Lebensmitteln müssen wir uns wieder vertraut machen. Ich habe wiederholt die Bemerkung gehört „Der Geschmack ändert sich alle sieben Jahre“, aber die Lebenszeit von Geschmacksinneszellen dauert nur 10 Tage. Neue Geschmacksvorlieben zu entwickeln ist gar nicht ein so langer Prozess, wie man oft denkt.
Quellen
Der Zahnstocher ist eine der ältesten Erfindungen der Welt. https://www.nzz.ch/der_zahnstocher_ist_eine_der_aeltesten_erfindungen_der_welt-1.753178
https://patents.google.com/patent/WO2004103204A1/de
https://de.statista.com/prognosen/999818/deutschland-kaufkriterien-fuer-nahrungsmittel
Geschmack und Ernährung - 1. Die physiologischen Grundlagen der Geschmackswahrnehmung. Maik Behrens, Anja Voigt, Wolfgang Meyerhof, Potsdam-Rehbrücke. Ernährungs Umschau 7/2013, S.124-131
Geschmack und Ernährung - 2. Auswirkungen der genetischen Veranlagung und von Umwelteinflüssen auf die Geschmackswahrnehmung. Maik Behrens, Natacha Roudnitzky, Wolfgang Meyerhof, Nuthetal. Ernährungs Umschau 10/2013
Auf den Geschmack gekommen? Angelika Ploeger. Ernährungs Umschau 7/2009, S. 413-415
Frühkindliche Geschmacksprägung – Aktuelle Forschung im Health Perception Lab der FH Joanneum. Bianca Neuhold, Marie Peterseil, Wolfgang Gunzer, Susanne Maunz. Ernährungs Umschau 7/2014, S. M393-395
Geschmack und Ernährung - 3. Ausbildung von Nahrungspräferenzen und -aversionen. Sandra Hübner, Jonas Töle, Wolfgang Meyerhof, Nuthetal. Ernährungs Umschau 12/2013. S.222-227
Umami - Mechanismen, Substanzen und Lebensmittel. Jana Maria Knies. Ernährungs Umschau 12/2018, S. S77-S81
https://www.ernaehrungsumschau.de/news/30032016forscheridentifizieren31aktivegeschmacksstoffe/
https://www.gesundheitsinformation.de/wie-funktioniert-der-geschmackssinn.html
Psychologie. Gerrig, Zimbardo. 18. Auflage.
Scharf. Knies JM. Ernährungs Umschau 7/2020 S.M414-425.
https://www.ernaehrungs-umschau.de/news/27-05-2010-bitterstoffe-nur-25-rezeptoren-fuer-geschmack-verantwortlich/
https://www.ernaehrungs-umschau.de/news/11-12-2001-reines-fett-ist-nicht-geschmacklos-sechster-geschmackssinn-entdeckt/
https://www.welt.de/gesundheit/article6730292/Geschmackssinn-fuer-Fett-verursacht-Uebergewicht.html
https://www.nzz.ch/wissenschaft/medizin/sechster-sinn-fuer-fettiges-1.18353186
https://www.bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2020/juli/kokumi-effekt-entschluesselt/
https://www.tum.de/nc/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/34714/